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Dezentrale Versorgung

Die Rolle des Energieversorgers in einem zunehmend dezentralen Versorgungsmodell
Eraneos Blog dezentrale Versorgung

In den letzten Wochen überschlugen sich die Schlagzeilen zu den massiv gestiegenen Preisen von Strom und Gas auf den Grosshandelsmärkten. Die Gaspreise stiegen seit Anfang des Jahres um ca. 250% und vor Anbruch des Winters kennt die Preiskurve gewohnheitsgemäss nur eine Richtung: weiter nach oben. Drastischer sieht es sogar im Bereich der Elektrizitätsversorgung aus. Innerhalb eines Jahres stiegen die europäischen Grosshandelspreise für Strom von knapp 4rp/kWh im Oktober 2020 auf über 20rp/kWh im Oktober 2021. Das entspricht fast einer Versechsfachung der Preise. Zwar werden die kurzfristig sehr hohen Preise nicht direkt eins zu eins an die Endkunden weitergegeben, erste Preiserhöhungen wurden allerdings bei einzelnen Energieversorgern beobachtet. Mittelfristig ist eine weitere Teuerung der Energiepreise für die Endverbraucher sehr wahrscheinlich. Unter diesen Rahmenbedingungen könnten sich viele Endverbraucher wieder vermehrt mit dem Thema Eigenstromerzeugung beschäftigen, um künftig unabhängiger von den Grosshandelspreisen zu werden.


Um abschätzen zu können ob eine Eigenstromversorgung für Endverbraucher sinnvoll sein kann, schauen wir uns zunächst einige Randbedingungen an, die die Entscheidung zur Eigenstromerzeugung massiv beeinflussen können:

Eigenstromerzeugung durch PV

Die wohl einfachste und zugleich nachhaltigste Form der Eigenstromerzeugung bildet die Stromerzeugung aus solarer Strahlungsenergie mittels einer PV-Anlage. Dass die Erzeugung von Strom mittels PV-Anlagen in den letzten 20 Jahren einen Quantensprung gemacht hat, ist mittlerweile allgemein bekannt. Die reinen Modulpreise sind in den letzten zwanzig Jahren um den Faktor 10 im Preis gefallen. Gleichzeitig stieg die Qualität der Module, was sich in immer länger werdenden Leistungsgarantien der Hersteller von bis 30 Jahren bemerkbar macht. Bereits im Jahr 2018 wurde die Solarenergie als günstigste Quelle zur Stromerzeugung identifiziert. Auch in Mitteleuropa, einem global gesehen eher ungünstigen Standort für PV-Erzeugung, produzieren PV-Anlagen z.T. zu deutlich unter 4rp/kWh Strom.


Trotzdem konnte sich die dezentrale Erzeugung von PV-Strom auf Dachflächen bisher nicht flächendeckend durchsetzen. Grund dafür sind unter anderem die hohen Installationskosten von Kleinanlagen, sowie die geringen zu realisierenden Eigenverbrauchsquoten aufgrund der mangelnden Speicherbarkeit. Im Aufdach-Segment können heute in der Schweiz bei optimalen Bedingungen, je nach Gebäudegrösse, Gestehungskosten von 8 bis 12 rp/kWh realistisch angenommen werden. Die Gestehungskosten sind dabei massgeblich abhängig von der mit Modulen zu belegenden Dachfläche. Gut ausgerichtete Mehrfamilienhäuser liegen im Mittel bei ca. 8-10rp/kWh. Dachflächen auf Einfamilienhäuser liegen tendenziell eher im Bereich von 10-12rp/kWh.


Eine Beispielrechnung für ein durchschnittliches Einfamilienhaus mit einem Strombezugspreis von 21rp/kWh und einem Rückspeisetarif von 8 rp/kWh ergibt eine Amortisationszeit von ca. 20 Jahren. Bei einer häufig kalkulierten Laufzeit von 20 Jahren kann unterm Strich realistischerweise nur noch von Liebhaberei gesprochen werden. Doch wie wird sich die Wirtschaftlichkeit von PV-Anlagen mit Blick auf die Zukunft entwickeln?  

Aktuelle technische Entwicklungen

Mit der Entwicklung der E-Mobilität, dem voranschreitenden, grossflächigen Einsatz von Wärmepumpen und der Entwicklung günstiger Steuerungssoftware zur Eigenverbrauchsoptimierung könnten PV-Anlagen auf Hausdächern allerdings künftig ein ganz anderes Gewicht bekommen. Getrieben durch die Elektrifizierung der Sektoren Wärme und Mobilität könnte der Strombedarf eines durchschnittlichen Haushaltes von gemittelt 3.500 kWh für den üblichen Haushaltsstrom um  2.500kWh für das E-Auto (bei einem Auto mit einer durchschnittlichen Fahrleistung von 12.500km/a) und 4.000kWh für die Wärmepumpe auf 10.000 kWh oder mehr pro Jahr ansteigen. Der erhöhte Verbrauch resultiert zum Einen in einem grösseren Einsparpotential durch den günstigen Strom vom eigenen Dach (10rp/kWh vs. 21rp/kWh) und zum anderen in einem deutlich höheren Eigenverbrauchsanteil.


Immer mehr Marktakteure wie z.B. Autohersteller arbeiten gezielt daran die sektorenübergreifende Eigenstromoptimierung auf lokaler Ebene umzusetzen. Dadurch können bereits heute Autarkiequoten von über 80% erreicht werden. Eine Autarkiequote von 80% bedeutet, dass sich ein Haushalt zu 80% selbst mit elektrischer Energie versorgt. Lediglich 20% der über das Jahr benötigten Energie müssen vom Energieversorger bezogen werden. Eine zentrale Rolle bei der Steigerung der Autarkiequote spielt das E-Auto. Es kann künftig als Pufferspeicher für überschüssigen PV-Strom verwendet werden und diesen bei bidirektionaler Anbindung beispielsweise nachts wieder zur Versorgung des Haushaltes zurückspeisen.


Vergleicht man dieses Ausgangsszenario mit dem zuvor berechneten Case ergibt sich eine Amortisationszeit von ca. 12 Jahren für die gleiche PV-Anlage. Tendenziell steigende Strombezugskosten für den Bezug von Netzstrom verbessern die Wirtschaftlichkeitsberechnung zusätzlich. Ein weiterer Punkt, der an dieser Stelle erwähnt sein sollte: erste Langzeittests von PV-Anlagen legen offen, dass heute gut und gerne von einer potenziellen Lebensdauer von 30 Jahren und mehr ausgegangen werden kann.


Die Wirtschaftlichkeit kleiner PV-Anlagen wird sich also in Zukunft aller Voraussicht nach weiter verbessern. Hinzu kommt die politisch immer stärker forcierte Durchsetzung der Energiestrategie 2050 deren Kernbestandteil unter anderem die Verdreifachung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien bis 2035 bildet.

Zukunftsszenario

Es sprechen also einige Faktoren für eine immer attraktiver werdende dezentrale Stromerzeugung. Was also, wenn all diese Entwicklungen dazu führen, dass sich die dezentrale Eigenstromversorgung von privaten Haushalten und Gewerbetreibenden langfristig und grossflächig durchsetzt? Welche Herausforderungen erwarten den Energieversorger? Um diese Fragen zu beantworten, stellen wir einmal folgendes fiktives Zukunftsszenario auf:


Alle bisherigen Endkunden versorgen sich über das Jahr gesehen zu 90% durch beispielsweise die Kombination von PV-Erzeugung und Batteriespeicherung selbst. Der Versorger liefert lediglich die 10% Reststrom. Ein Grossteil der Gebäude wird mit Wärmepumpen beheizt und der Personenindividualverkehr erfolgt weitgehend durch Elektrofahrzeuge.

Herausforderungen für die Versorger

Herausforderung 1: Änderung des Versorgungsgeschäftes

Trotz des insgesamt steigenden Stromverbrauchs sinkt die effektive Energiebelieferung des Versorgers an die Endkunden. Unter oben genannter Prämisse beträgt der Absatz von Energie an die Endverbraucher nur noch einen Bruchteil im Vergleich zu heute.


Gleichzeitig ist mit einer Zunahme von Lastspitzen zu rechnen. Diese werden typischerweise durch die vergleichsweisen hohen Leistungen beim Laden von E-Autos, sowie dem Betrieb von Wärmepumpen verursacht. Es ist davon auszugehen, dass diese Lastspitzen vor allem in den Abendstunden der Wintermonate auftreten werden. Um diese Lastspitzen managen zu können, muss vom Netzbetreiber zusätzlicher Aufwand betrieben werden.


Mit dem zusätzlichen Aufwand, steigen klassischerweise auch die Kosten für die Bereitstellung des Netzes. Da die Kosten für das Netz nach dem aktuellen Preismodell auf immer weniger kWh Stromabsatz umgelegt werden, ergibt sich eine deutliche Teuerung der Netzentgelte pro kWh. Diese wiederum verstärkt den Anreiz der dezentralen Eigenversorgung. Spätestens an dieser Stelle kommt das Thema Gerechtigkeit ins Spiel. Die verursachergerechte Verteilung der Netzentgelte ist in jedem Fall nicht (mehr) gegeben.


Herausforderung 2: Systemstabilität

Eine weitere Herausforderung, die ein Energieversorger in dem beschriebenen Szenario bewältigen muss, betrifft die Systemstabilität. In einem von massgeblich von PV-Anlagen geprägten dezentralen Versorgungssystems wird das Verteilnetz vor allem im Sommer in den Mittagsstunden durch die gleichzeitige Erzeugung stark belastet. Der direkt Verbrauch der Energie vor Ort ist nur selten möglich, da alle wesentlichen Abnehmer bereits versorgt sind. Im Gegenzug bieten vor allem die oben skizzierten Lastspitzen in den Abendstunden das Potential einzelne Netzabschnitte durch hohe Entnahmeleistungen zu überlasten. Der Schlüssel diesen Herausforderungen Herr zu werden ist die Nutzung von positiver wie negativer Flexibilität.


Erzeugungsseitig können an dieser Stelle entweder gezielte Abregelungen der Anlagen oder pauschale Vorgaben zur Leistungsbegrenzung auf z.B. 70% Abhilfe schaffen. Verbrauchsseitig bieten besonders die thermischen Assets mit Pufferspeichern und die Ladevorgänge von Elektroautos grosses Potential Lastspitzen zu glätten oder den Strombezug gänzlich zu verschieben. So kann beispielsweise bereits tagsüber der Pufferspeicher mittels PV-Strom gefüllt werden, um Warmwasser für den nächsten Morgen bereit zu stellen. Der Ladevorgang eines Elektroautos dagegen kann mit einer geringeren Leistung oft auch über mehrere Stunden gezogen werden, wenn das Auto erst am nächsten Tag wieder aufgeladen sein soll.


Die positive wie negative Flexibilität im eigenen Netz für den Versorger auch in kleinteiligem Umfang nutzbar zu machen, ist somit eine der Haupt-Herausforderungen der Energieversorger, wenn es darum geht die Netzstabilität aufrecht zu erhalten. Das NOVA -Prinzip (Netzoptimierung vor Verstärkung oder Ausbau) greift diesen Aspekt bereits auf.

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Schlussbemerkung

Auch wenn das skizierte Szenario nicht von heute auf morgen Wirklichkeit werden wird, soll damit aufgezeigt werden, wie sich die Aufgaben des Versorgers tendenziell verändern werden. Das Kerngeschäft, die Versorgung, könnte deutlich an Attraktivität verlieren. Die Anforderungen und Erwartungshaltungen der Kunden an den Energieversorger steigen. Gleichzeitig steigt mit fortschreitender Dezentralisierung der Aufwand die Systemsicherheit zu gewährleisten.


Die Granularitätsebene auf der Steuerungsbefehle umgesetzt werden, sinkt von einigen grossen Assets auf tausende verteilte Flexibilitäten. Ebenfalls eine offene Frage ist, wie viel Verantwortung die dezentralen Player in diesem System künftig selbst tragen müssen.


Der Weg vom Vollversorger zum Organisator eines kleinteiligen und flexiblen Versorgungskonstruktes stellt in jedem Fall eine technische, wirtschaftliche sowie organisatorische Herausforderung dar. Um diesen Herausforderungen entgegenzutreten sollten der Kreativität des Energieversorgers zumindest keine Grenzen gesetzt werden.

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